Verspätetes Treffen: Jahrestag des Terroranschlags auf den Berliner Weihnachtsmarkt

Je suis Breitscheidplatz

Aber nach allem, was seit dem 19. Dezember 2016 passiert ist und was zuvor seit der illegalen Einreise des Tunesiers Anis Amri nach Deutschland passierte, wirkt alles zu spät. Viel zu spät, nämlich erst gestern, hat Angela Merkel zum ersten Mal die Angehörigen getroffen und ihnen ihr Beileid ausgesprochen. Das ist der Versuch von Schadensbegrenzung im letzten Moment.

Wie der Staat – also Politik und Behörden auf allen Ebenen von der Bundesregierung über die rot-grüne NRW-Landesregierung bis zum Berliner Senat – mit dem ersten großen islamistisch motivierten Attentat umgegangen ist, macht einen auch heute noch sprachlos. Der Staat sollte sich nicht schämen, er muss sich schämen: für sein Versagen bei der mehrfach möglichen Festsetzung des Mörders; für sein selbstverschuldetes Chaos bei den Zuständigkeiten; für sein gefühlloses Verhalten gegenüber den Angehörigen der Opfer; für seine Weigerung, politische und rechtliche Konsequenzen aus den Fehlern zu ziehen. Nachdem am 7. Januar 2015 zwei Islamisten in den Büroräumen der französischen Satirezeitschrift »Charlie Hebdo« elf Menschen ermordet hatten, dauerte es keine vier Tage, bis ein Trauermarsch mit Staats- und Regierungschefs aus aller Welt durch Paris zog. Kanzlerin Angela Merkel ging in der ersten Reihe neben dem damaligen französischen Präsidenten François Hollande.

»Je suis Charlie« (Ich bin Charlie) war als Slogan der Solidarität in Mode. Dabei galt diese öffentlich mit Buttons zur Schau gestellte Solidarität nur kurz den Opfern der islamistischen Schlächter. Zumindest in Deutschland. Schon am 13. Januar 2015 kam es am Brandenburger Tor zu einer »Mahnwache für Toleranz und gegen Extremismus«. Dazu aufgerufen hatten islamische Verbände. Auf dem Pariser Platz gedachte die Spitze des Staates mit Bundespräsident, Bundestagspräsident und Bundeskanzlerin nicht der Opfer islamistischen Terrors, sondern rief gegen pauschale Islamkritik auf. Welch ein Irrsinn, eine Religion, Kultur und Ideologie, in deren Namen weltweit unschuldige Menschen getötet werden, pauschal gegen Kritik in Schutz nehmen zu wollen.

Einen Slogan wie »Je suis Breitscheidplatz« hat man in Berlin und anderswo nicht gesehen. Die sogenannte Zivilgesellschaft fühlt sich wohl nicht angesprochen. Bis auf ein kurzes Treffen der Hinterbliebenen mit Joachim Gauck blieb die offizielle Anteilnahme aus.

Womit ist dieser gleichgültige Umgang mit der Trauer zu erklären? Lapidar gesagt, wurde die Politik auf dem falschen Fuß erwischt. Anis Amris Anschlag war ebenso ein Fanal für die verfehlte Flüchtlingspolitik wie die sexuellen Übergriffe an Silvester 2015. Beides wird Angela Merkel zur Last gelegt.

Natürlich kann man die Bundeskanzlerin nicht persönlich dafür verantwortlich machen, dass die Behörden bei Anis Amri trotz klarer Erkenntnisse für seine Absichten nicht zugreifen wollten. Es ist auch nicht so, dass Merkel einen Bogen um den Breitscheidplatz gemacht hätte. Im Februar besuchte sie den Ort des Anschlags mit dem tunesischen Ministerpräsidenten: Er sollte sehen, wo sein Landsmann zugeschlagen hatte.

Für die Kanzlerin sind diese letzten Tage des Jahres nicht einfach. Die Menschen haben auf den mit Betonpollern und Polizisten gesicherten Weihnachtsmärkten den Eindruck, dass dort die neue, nach innen verlegte Außengrenze Deutschlands verläuft – und dass dem Staat die Sicherheit seiner Bürger ziemlich egal ist.

Wenn es anders wäre, hätte es im Wahlkampf und bei den Jamaika-Sondierungen gar keinen Streit über Obergrenzen und Familiennachzug und überhaupt keine Forderung, wie von den Grünen, nach mehr Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen gegeben. Hat die Politik also nichts aus dem Anschlag gelernt?

Es sieht so aus. Beim Blick auf das, worüber Union und SPD erst sondieren und dann vielleicht verhandeln wollen, kann einem ganz anders werden. In der aktuellen Studie zu den Ängsten der Deutschen werden am häufigsten genannt: Terrorismus (71 Prozent), politischer Extremismus (62 Prozent) und Spannungen durch Zuzug von Ausländern (61 Prozent). Wer da die Bürgerversicherung zum Heiligtum erklärt, der verkauft die Wähler für dumm.

Heute ist zu befürchten, dass der Bundespräsident nicht mehr sagt als das, was unmittelbar nach Terroranschlägen immer gesagt wird. Doch diese eingeübten Floskeln kann und will niemand mehr hören. Frank-Walter Steinmeiers Worte zu den brennenden israelischen Fahnen am Brandenburger Tor waren schon schwach genug. Bei dieser Form des Antisemitismus und angesichts der arabischen und türkischen Demonstranten keinen Zusammenhang zum in der muslimischen Welt weit verbreiteten Judenhass zu erwähnen, darauf muss man erst mal kommen.

Dazu passt die Inschrift des Mahnmals am Breitscheidplatz: Dass Anis Amri aus islamistischen Motiven handelte, bleibt unerwähnt. Westfalen-Blatt

Zwölf Betonstufen mit den Namen der beim Terroranschlag vor einem Jahr auf dem Berliner Breitscheidplatz getöteten Menschen mahnen. Es ist nicht nur die tiefe Trauer um die Opfer und die Verletzten des furchtbaren Lkw-Anschlags, die am Jahrestag bewegen, sondern auch Wut, Zorn und Fassungslosigkeit über das eklatante Versagen von Sicherheitsbehörden, die den potenziellen Attentäter im Vorfeld nicht aus dem Verkehr gezogen haben. Angela Merkel hat sich gestern mit 80 Angehörigen von Getöteten sowie Verletzten getroffen und ihnen damit – sehr spät – ihren Respekt erwiesen. Für das eklatante Behördenversagen im Fall Anis Amri jedoch gibt es keine Entschuldigung. Die Regierungschefin, die zwar nicht direkt involviert war, trägt zumindest eine politische Mitverantwortung dafür, dass Polizeien und Dienste nicht angemessen kooperiert, dass sie angesichts einer ernsten Gefahr schlicht gepennt haben. Ein solcher Fall darf sich nie wiederholen! Man kann jetzt nur darüber spekulieren, warum sich die Kanzlerin erst zum Jahrestag des Anschlags mit Hinterbliebenen von Todesopfern und Verletzten getroffen hat.

Wollte sie im Wahlkampf etwa kein Treffen, das auch Erinnerungen an die unselige, unkontrollierte Grenzöffnung im Spätsommer 2015 provozieren würde? Zur Ehrenrettung der Kanzlerin sei gesagt, dass sie am Tag gleich nach dem Attentat zum Ort des furchtbaren Geschehens kam. Auch sprach sie im Gedenkgottesdienst ihre Anteilnahme aus. Zur bitteren Wahrheit gehört allerdings auch, dass zum selben Zeitpunkt Angehörige in Berlin zwischen Polizei und Krankenhäusern auf der Suche nach geliebten Menschen herumirrten. Die Krone der Pietätlosigkeit lieferten Berliner Behörden, die Angehörigen die Rechnung für die Obduktion von Toten zustellten. In höchstem Maße unwürdig war auch die Bürokratie, mit der Hinterbliebene und Verletzte nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus Israel, Italien, Tschechien, der Ukraine oder Polen bis heute zu kämpfen haben. Den Hinterbliebenen des Terroranschlags, der der gesamten Bundesrepublik galt, stand nur eine einmalige Härteleistung des Deutschen Bundestages in niedriger Höhe zu. Beschämend gering waren auch die Bestattungskosten, die im Rahmen des sogenannten Opferentschädigungsgesetzes gezahlt wurden. Das gilt auch für die Rentenansprüche. Weil der Anschlag mit einem Lastwagen verübt worden war, konnten zumindest Mittel der Verkehrsopferhilfe in Anspruch genommen werden. Doch damit können nur unmittelbare Schäden etwas gemildert werden.

Es bleibt die bittere Erkenntnis, dass der deutsche Staat nicht für die finanzielle und die logistische Hilfe bei Terroranschlägen gerüstet ist. Die staatlichen Hilfen sind unzureichend. Die allgegenwärtige Bürokratie verschärft diesen beklagenswerten Zustand nur noch. Verwirrend waren zudem die Hektik und Kurzatmigkeit, mit der nach dem Anschlag Gesetze verschärft und an Strukturen herumgebastelt wurde. Zwölf Menschen könnten noch leben und siebzig wären nicht verletzt worden, wenn die Landeskriminalämter in Nordrhein-Westfalen, in Berlin, beim Bund und im Gemeinsamen Terror-Abwehrzentrum ordentlich gearbeitet hätten. Der Staat hat in einer Sicherheitsfrage, in der es um Leben und Tod ging, bitterlich versagt. Doch bis heute ist keiner der Verantwortlichen in den Sicherheitsbehörden oder in der Politik für Fehlverhalten belangt worden. Es reicht nicht, über immer neue Sicherheitsgesetze zu schwadronieren, wenn die bestehenden nicht eingehalten werden. Mittelbayerische Zeitung

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