Sigmar Gabriel kritisiert Corona-Krisenmanagement: „Verantwortlich sind immer die anderen“

Er spricht über fehlende Konzepte für Pflegeheime, Schulen und über Traurigkeit bei Kindern

Es sei „im Großen und Ganzen nichts schiefgelaufen“, sagte die Bundeskanzlerin diese Woche in einem ARD-Interview mit Blick auf die Impfstoff-Beschaffung. Doch ein schleppender Impfstart, der Dauerlockdown und viele Todesfälle in den Risikogruppen lassen das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in das Krisenmanagement sinken.

Kurz vor dem neuen Bund-Länder-Gipfel sind in weiten Teilen Deutschlands die Hoffnungen auf Verbesserungen in der Pandemie-Politik einer Corona-Erschöpfung gewichen. Auch wenn nun mehr Impfstoffe im Februar zur Verfügung stehen sollen, ist nicht klar, wann wirklich ein Durchbruch in der Impfkampagne zu erwarten ist – und ob es bis dahin Lockerungen für die stark belasteten Bereiche Kitas, Schulen und Einzelhandel geben kann. Weiterhin bleibt die Frage, warum die Risikogruppen nicht besser geschützt werden können. Welche Fehler haben Bund und Länder gemacht und haben sie daraus gelernt?¹

Schwindendes Vertrauen ins Corona-Krisenmanagement – was muss jetzt passieren?

Der langjährige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel übt scharfe Kritik am Management der Corona-Krise durch die Politik. Gabriel sagte der „Heilbronner Stimme“: „In der Politik ist es ja Mode geworden, dass niemand mehr öffentlich Verantwortung übernimmt. Man hört nur erstaunliche Sätze: „Das ist uns entglitten“. Oder „das hätte besser funktionieren können“. Früher sind Minister aus weit geringeren Gründen zurückgetreten, heute wird einfach der nächste Fehler gemacht. Verantwortlich sind immer die anderen.“

Gabriel erklärte: „Das ganze Elend hat begonnen, als die Ministerpräsidenten damit angefangen haben zu wetteifern, wer die schnellste Lockerung umzusetzen vermag.“ Er fügte hinzu: „Was mich am meisten ärgert: Wir behandeln die Pandemie mit den Mitteln des Mittelalters. Bei der Pest wurden die Menschen auch nur weggesperrt. Die Mittel des 21. Jahrhunderts lassen wir aber weitgehend ungenutzt liegen. Die Corona-Warn-App ist ein Flop, es gibt kein Daten-Tracking, um die Infektionsherde schnell zu lokalisieren, und unsere Gesundheitsämter melden Daten per Fax und zählen vermutlich noch händisch. Und es ist erbärmlich, wie wenig eines der reichsten Länder der Erde – Deutschland – in der Lage ist, seine Schulen und Bildungseinrichtungen digital zu führen.“

Zu seinen privaten Erfahrungen mit coronabedingten Einschränkungen sagte Gabriel der „Heilbronner Stimme“: „Eine unserer Töchter ist im Grundschulalter. Das lässt sich gut organisieren, auch weil ihre Lehrerin sehr engagiert Online-Unterricht und Wechselunterricht gestaltet. Ich stelle mir allerdings die Frage, was mit denen ist, die weiterführende Schulen besuchen, die Fragen in Französisch oder zum Mathe-Leistungskurs haben, aber niemand daheim in der Familie Hilfe leisten kann. Oder mit Alleinerziehenden oder Eltern, bei denen beide arbeiten gehen müssen? Ich erlebe bei meiner Tochter auch, dass sie traurig darüber ist, nur selten mal eine Freundin treffen zu können.“

Gabriel: „Es ist für mich nicht nachvollziehbar, warum seit Frühjahr letzten Jahres weder tragfähige Konzepte für Pflegeheime noch für Schulen entwickelt wurden. Die Kultusministerkonferenz stellt einmal mehr unter Beweis, dass der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt Recht hatte, als er am Sinn dieser Institution zweifelte.“

Der SPD-Politiker glaubt, dass auch der Umgang mit Inzidenzwerten die Bevölkerung zunehmend belaste: „Es macht die Menschen mürbe, wenn sie ständig neue Zahlen hören und sie ständig in den Stop and Go Modus versetzt werden. Erst war der sogenannte Inzidenzwert, unter dem man pro 100.000 Einwohner kommen muss, 50. Dann 35 und am vergangenen Wochenende sprach der RKI-Chef plötzlich davon, dass 10 ein cooler Wert sei. Und es ist auch kein Ausweis besonderer Klugheit, wenn die Bundesregierung bis tief in die Nacht mit den Ministerpräsidenten verhandelt, dann ein gemeinsames Ergebnis bekannt gegeben wird – und schon im Morgenmagazin um 7.30 Uhr der erste aus der Runde aufsteht und sagt, dass das alles eigentlich unzureichend gewesen sei. Man darf die Geduld der Deutschen wirklich bewundern.“

Zur gemeinsamen europäischen Impfstoff-Strategie sagte der frühere Außenminister: „Wenn Sie auf die Welt blicken, dann streiten sich gerade die reichen Länder in der Frage, wer den meisten Impfstoff bekommt. Dass die EU bei der Impfstoffbeschaffung einen gemeinsamen Weg gehen wollte, war aus meiner Sicht der richtige Gedanke. Das entbindet aber die Mitgliedsstaaten ja nicht, bei der EU darauf zu achten, dass auch genug Impfstoff beschafft wird. Noch schlimmer aber ist es, wenn wir auf die Lage der ärmsten Länder der Welt schauen. In vielen Ländern fehlt doch eine realistische Impf-Perspektive. Wenn Infektionsherde dort nicht eingedämmt werden, kann Corona immer wieder auch zu uns zurückkommen, möglicherweise in mutierter Form.“²

¹ARD Das Erste ²Heilbronner Stimme

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