Zunächst hatte sich die Koalition darauf geeinigt, den Paragrafen 103 des Strafgesetzbuches zum 1. Januar 2018 abzuschaffen. Ein erster Gesetzentwurf der SPD-Fraktion sieht dies auch vor. Doch nun gibt es Druck aus den Ländern. NRW-Justizminister Thomas Kutschaty (SPD) hatte angekündigt, den Majestätsbeleidigungs-Paragrafen sofort über den Bundesrat kippen zu wollen. Daraufhin signalisierte Maas den Ländern gestern, dass er ihnen entgegenkommen werde.
Majestätsbeleidigungs-Paragraf soll vor Sommerpause fallen
Nordrhein-Westfalen will über den Bundesrat den Majestätsbeleidigungs-Paragrafen noch vor der Sommerpause kippen und dem Satiriker Jan Böhmermann so eine mögliche Bestrafung deswegen ersparen.
„Ich will eine Bundesratsinitiative einbringen, die das Ziel hat, den Straftatbestand der Majestätsbeleidigung sofort abzuschaffen. Dann könnte man Herrn Böhmermann auch nicht mehr deswegen verurteilen“, sagte NRW-Justizminister Thomas Kutschaty (SPD). „Auf die besondere Empfindlichkeit von Herrn Erdogan darf die Justiz keine Rücksicht nehmen“, betonte der Minister. Auch die Bundesregierung will den als überholt geltenden Paragrafen 103, der die Beleidigung von Staatsoberhäuptern unter Strafe stellt, abschaffen.
„Allerdings will sie den Paragrafen erst im Jahr 2018 abschaffen. Damit will sie die Möglichkeit eröffnen, den Satiriker Böhmermann noch wegen Majestätsbeleidigung zu bestrafen“, kritisiert Kutschaty. „Es entspricht doch dem Menschenbild des Mittelalters, die Empfindlichkeit von einzelnen Staatsoberhäuptern auch noch unter den Schutz des Strafrechts zu stellen“, sagte der NRW-Justizminister.
Der NRW-Antrag bereits am 27. April in den Rechtsausschuss des Bundesrats und am 13. Mai in die Länderkammer eingebracht werden. In der NRW-Regierung setzt man darauf, dass der Majestätsbeleidigungs-Paragraf somit noch vor der Sommerpause abgeschafft werden kann. Hamburg und Schleswig-Holstein haben NRW schon ihre Unterstützung fest zugesagt, weitere Bundesländer Zustimmung signalisiert, heißt es aus dem NRW-Justizministerium. Noch haben die rot-grün regierten Bundesländer eine Mehrheit im Bundesrat.
Kabarettist Dieter Nuhr zeigt Verständnis für Merkels Böhmermann-Entscheidung
Der Kabarettist Dieter Nuhr hat sich verständnisvoll zur Entscheidung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) geäußert, der deutschen Justiz die Strafverfolgung gegen den ZDF-Satiriker Jan Böhmermann zu ermöglichen.
„Ich verstehe die Hysterie nicht“, sagte Nuhr. „Jemand fühlt sich beleidigt, er zeigt jemanden an. Das ist ein Grundrecht, das im Rechtsstaat jedem zusteht, auch denen, die selber Grundrechte mit Füßen treten, also beispielsweise Nazis oder Erdogan“, sagte Nuhr. Ein Gericht werde entscheiden. Und das entscheide nach deutschem Recht und Gesetz. „Ich sehe da kein Problem“, sagte der Kabarettist. Die Meinungsfreiheit sehe er eher dadurch in Gefahr, „dass einem Großteil der Bevölkerung ganz offenbar die Grundsätze des Rechtsstaates nicht bekannt sind“.
In der Justiz werde nicht nach Geschmack oder naiven Gut-Böse-Kriterien entschieden (Erdogan schlecht, also Böhmermann gut), sondern nach Rechtslage. „Das unterscheidet uns ja gerade von der Türkei“, betonte Nuhr. Nuhr verwies auf einen anderen Aspekt des Falls Böhmermann, der ihm mehr Sorgen bereite. „Dass Böhmermann offenbar bedroht wird, hat mit dem Rechtsstreit nichts zu tun. Diese potentielle Gewalt ist es, die die Meinungsfreiheit bedroht – und sie droht jedem, der Witze macht, die die islamische Welt betreffen“, sagte Nuhr. Rheinische Post
ROG: Merkel-Entscheidung zu Böhmermann ist unglücklich und unnötig
Zur Entscheidung von Bundeskanzlerin Angela Merkel, Strafermittlungen gegen den ZDF-Satiriker Jan Böhmermann wegen Beleidigung des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan zuzulassen, erklärt der Vorstandssprecher von Reporter ohne Grenzen, Michael Rediske:
„Die Entscheidung der Bundeskanzlerin ist unglücklich und unnötig. Das Verfahren nach dem Majestätsbeleidigungs-Paragrafen ermöglicht eine höhere Strafe als bei einer einfachen Beleidigung. Das ist ein Wink in die falsche Richtung. Alles Weitere liegt nun bei der Justiz und damit dort, wo es hingehört.
Dass die Bundesregierung endlich den antiquierten und überflüssigen Strafrechtsparagraf 103 abschaffen will, ist zu begrüßen. Besser wäre es gewesen, schon jetzt auf seine Anwendung zu verzichten und Erdogan damit auf seinen schon gestellten Strafantrag als einfacher Bürger zu verweisen.
Entscheidend wird jetzt sein, dass der Bundestag tatsächlich zügig die Majestätsbeleidigung aus dem deutschen Strafrecht streicht. Sonst könnten sich Autokraten von China bis Aserbaidschan jetzt eingeladen fühlen, gegen kritische Journalisten und Satiriker vor deutsche Gerichte zu ziehen – und sich im eigenen Land mit Sonderrechten gegen kritische Medien zu immunisieren. Wenn die Affäre Böhmermann zu mehr Aufmerksamkeit für die Verfolgung von Journalisten in Ländern wie der Türkei beiträgt, könnte sie am Ende sogar etwas Gutes bewirken.“
STARKER ANSTIEG VON KLAGEN WEGEN BELEIDIGUNG DES PRÄSIDENTEN IN DER TÜRKEI
Reporter ohne Grenzen kritisiert seit Langem die juristische Verfolgung von Journalisten in der Türkei unter anderem aufgrund von Artikel 299 des türkischen Strafgesetzbuches, der für Beleidigung des Präsidenten mehrjährige Gefängnisstrafen vorsieht (http://t1p.de/cmye). Unter Präsident Erdogan ist dieses Delikt in jüngster Zeit zur häufigsten Anschuldigung gegen Journalisten neben „terroristischer Propaganda“ geworden (http://t1p.de/v96c). Allein 2015 wurden in der Türkei 19 Journalisten und zwei Karikaturisten wegen Beleidigung des Präsidenten zu Haft- oder Geldstrafen verurteilt; 2014 gab es nur zwei derartige Urteile. Bislang ist allerdings keiner der Verurteilten in Haft, weil ihre Berufungsverfahren noch nicht entschieden sind.
Potenziell schwerer für die Betroffenen wiegen Terror-Vorwürfe: Aktuell drohen etwa Chefredakteur Can Dündar und Hauptstadtbüroleiter Erdem Gül von der Tageszeitung Cumhuriyet aufgrund ihrer Berichterstattung lebenslange Haftstrafen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen Spionage, Verbreitung von Staatsgeheimnissen und Unterstützung einer terroristischen Organisation vor.
Ende Mai 2015 hatte ihre Zeitung Belege für eine Beteiligung des türkischen Geheimdienstes an Waffenlieferungen an Islamisten in Syrien veröffentlicht. Daraufhin drohte Präsident Erdogan im staatlichen Fernsehen, Chefredakteur Dündar werde einen hohen Preis für die Veröffentlichung bezahlen und nicht ungestraft davonkommen (http://t1p.de/p1eq). Der Prozess gegen Dündar und Gül begann Ende März und wird in einer Woche fortgesetzt.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht die Türkei auf Platz 149 von 180 Staaten. Reporter ohne Grenzen