Er hat es wieder getan: Nachdem der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan zum dritten Mal binnen zwei Jahren den Chef der Zentralbank gefeuert hat, ist die Lira zeitweise zweistellig abgesackt. Der Realitätsschock reißt die Anleger aus der Illusion, der erklärte Zinsfeind könnte tatsächlich von seinem Mantra niedriger Zinsen abgerückt sein, um die Inflation einzudämmen und die Währung zu stabilisieren. Zuletzt hatte der nun entlassene Naci Agbal die Märkte beeindruckt, indem er den Leitzins unerwartet stark auf 19 Prozent anhob. So untermauerte er sein Versprechen, die Zinsen zu erhöhen, bis die zuletzt auf mehr als 15 Prozent angestiegene Inflation einstellige Werte erreicht.
Die dritte Zinserhöhung war Agbals letzte Amtshandlung. Keine fünf Monate ließ Erdogan ihn gewähren, bis er die Geduld verlor. Die mühsam wiederhergestellte Reputation der Notenbank liegt in Trümmern. Dass Kräfte jenseits der Zinspolitik für den unverminderten Inflationsdruck verantwortlich sind – steigende Energie- und Lebensmittelpreise der auf Importe angewiesenen Türkei, Engpässe auf den Weltmärkten – und die nun bevorstehenden Zinssenkungen die Preise weiter treiben werden, passt nicht in Erdogans Weltbild.
Tatsächlich hat sein Land die Coronakrise wirtschaftlich glimpflicher überstanden als viele andere Volkswirtschaften, maßgeblich unterstützt durch einen Boom an Unternehmenskrediten. Doch die Firmen werden ihre Schulden eines Tages bedienen müssen – das wird umso schwieriger, je tiefer die Lira fällt. Denn in der Türkei sind überdurchschnittlich viele Firmen in Dollar verschuldet.
Auch gegenüber den eigenen Bürgern geht Erdogan ins Risiko. Er setzt darauf, dass ein durch Kredite befeuerter Aufschwung die Menschen darüber hinwegsehen lässt, dass ihr Geld drastisch an Wert verlieren wird. Dass Unternehmen und Bürger in den Monaten des Lira-Absturzes rund um den Jahreswechsel in Gold und Fremdwährungen geflohen sind, sollte ein Alarmsignal sein. Erdogan nimmt diese Kollateralschäden billigend in Kauf – so wie er es auch auf dem Gebiet der Außenpolitik zu tun pflegt. In Erdgasfunden im östlichen Mittelmeer hat der Staatspräsident eine Gelegenheit zur Selbstversorgung erkannt, um weniger auf den Import von Energie angewiesen zu sein. Auf diese Weise ließe sich auch eine schwache Lira leichter verkraften. Die Staats- und Regierungschefs der EU sollten angesichts der geldpolitischen Kehrtwende nicht darauf setzen, dass Erdogan im Konflikt mit Griechenland auf Deeskalation aus ist, wenn sie diese Woche über Sanktionen gegen die Türkei beraten.¹
Zu weiteren dramatischen Rückschritten im Bereich der Menschenrechte in der Türkei erklären Cem Özdemir und Claudia Roth:
Der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention zeigt, dass Autoritäre, Rassisten und Faschisten immer auch üble Sexisten sind. Erdogan beugt sich erneut dem Druck seines rechtsextremistischen Koalitionspartners. Die AKP-MHP-Regierung steht für eine Türkei, die nicht nur autoritär, sondern auch streng patriarchal ist und in der Gewalt gegen Frauen Alltag ist. Eine demokratische Regierung wäre stolz darauf, dass die Türkei im Jahr 2011 als Gastland für die Unterzeichnung der Konvention fungierte. Der Austritt aus der Istanbul-Konvention ist ein weiteres Zeichen dafür, dass die universalen Menschenrechte für die türkische Regierung nichts als ein Störfaktor sind. Erdogans kürzlich verkündeter Menschenrechtsplan sche int lediglich darauf abzuzielen, die Menschenrechte in der Türkei vollends auszuhebeln. Trotz der harten Repressionen stellen die türkische Zivilgesellschaft und insbesondere Frauenorganisationen sich diesem Autoritarismus und Sexismus entschieden entgegen. Ihre Proteste verdienen unsere höchste Solidarität und Unterstützung.
Anstatt nächste Woche in Brüssel ihren Kuschelkurs fortzuführen oder gar auszubauen, muss die Bundesregierung Erdogan jetzt endlich klare Grenzen aufzeigen und sich dafür einsetzen, dass das demokratie- und menschenrechtsfeindliche Vorgehen der Türkei durch die EU und den Europarat sanktioniert wird. Mit ihrer naiven Haltung gegenüber Erdogan hat die Bundesregierung die Demokrat*innen in der Türkei bereits bitter enttäuscht. Sollten wir Grüne Teil einer nächsten Regierung sein, stehen wir klar an der Seite aller, die sich für Menschenrechte in der Türkei einsetzen.²
¹Stefan Reccius – Börsen-Zeitung ²Bündnis 90/Die Grünen
Eine Antwort auf "Istanbul-Konvention: Türkei muss zurückkehren"