Angela Merkel sucht beim Gipfel in Brüssel eine Lösung für die Flüchtlingskrise. Und die meisten der anderen 27 Regierungschefs warten ab, was die anderen tun. Der risikobereiten Bundeskanzlerin dagegen geht es um eine höhere Akzeptanz der Flüchtlingspolitik in Deutschland und um den europäischen Zusammenhalt.
Allen Beteiligten ist dabei klar, dass ein Vertrag mit der Türkei über Visaerleichterungen, über die Forcierung von Beitrittsverhandlungen und die Rücknahme von Flüchtlingen sicher kein Ruhmesblatt für den europäischen Gedanken ist, sondern schlicht Realpolitik. Die Notwendigkeit, sich jetzt unter großem Zeitdruck mit dem schwierigen Partner zu verständigen, muss darum einhergehen mit einer Neuformulierung des Verhältnisses der Europäer zu den Türken.
Präsident Erdogan verstärkt in diesen Tagen die Repression gegen Kurden, Journalisten, Linke und Intellektuelle. Hausdurchsuchungen in Istanbul, Anschläge des Islamischen Staates und anderer Terrorgruppen, die faktische Ausweisung kritischer Ausländer schaffen ein Klima der Angst. Erdogan besetzt weiter alle Schaltstellen der Macht in Politik, Militär und Verwaltung mit seinen Gefolgsleuten. Allein die widersprüchlichen Angaben über die Zahl der in der Türkei lebenden Flüchtlinge zeigen, was für ein unzuverlässiger Gesprächspartner Erdogan ist. Ein Handel mit ihm verschafft Europa zwar eine dringend notwendige Atempause. Doch seine Herrschaft macht das Land zunehmend instabil, mit möglichen Folgen für die gesamte Region.
Europas Uneinigkeit in der Flüchtlingskrise ist im Moment Erdogans Trumpf. Er rächt sich nun für die Jahre, in denen er als Sultan verspottet wurde und die Sondierungen über einen EU-Beitritt halbherzig geführt wurden. Der Handel zwischen Europäern und Türken, der heute in Brüssel besiegelt werden soll, ist wackelig, viele Fragen der praktischen Umsetzung bleiben unbeantwortet. Ein solcher Kompromiss, geboren aus der realpolitischen Not, kann kein Dauerzustand sein. Schwäbische Zeitung
Lambasorff: Ziele für den EU-Gipfel vage und unverbindlich
„Sowohl die Regierungserklärung der Bundeskanzlerin als auch der Entwurf der Ratsschlussfolgerungen enttäuschen. Die Ziele für den EU-Gipfel sind vage und unverbindlich, denn anstatt konkrete Maßnahmen und Fristen zu vereinbaren, werden lediglich Willensbekundungen ausgetauscht. Das wird dem Ernst der Lage nicht gerecht. Konkrete Lösungsvorschläge bleibt Merkel schuldig. Dabei gäbe es eine Reihe von Maßnahmen für eine europäische Lösung: So muss die vorgeschlagene Beschleunigung des Aufbaus der Registrierungs-Hotspots mit einer schnellen Eingreiftruppe europäischer und nationaler Beamter unterfüttert werden.
Darüber hinaus muss der Aufbau einer europäischen Grenz- und Küstenwache beschleunigt werden. Es ist völlig unzureichend, dass diese erst Ende des Jahres einsatzbereit sein soll, während in den Ratsschlussfolgerungen auf mögliche neue Routen für Migranten hingewiesen wird. Da diese sicher nicht erst Ende des Jahres beschritten werden, bedeutet das nichts anderes, als dass den Regierungen neue Risiken bekannt sind, sie aber bei einem Zeitplan bleiben, als gäbe es diese nicht.
Die Türkei ist auch aus Sicht der Freien Demokraten ein wichtiger Partner bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise. Eine Absprache mit der Türkei kann aber eine gemeinsame europäische Lösung nicht ersetzen. Zudem ist das Versprechen, weitere Beitrittskapitel zu öffnen, der falsche Weg. Solange fundamentale europäische Werte wie Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit missachtet werden, verbietet sich die Eröffnung weiterer Kapitel. Es liegt weder im Interesse der Türkei noch der EU, die Fragen der Flüchtlingskrise mit denen der Beitrittsverhandlungen zu vermischen.“ FDP
Der Bürgerkrieg im Osten der Türkei rückt näher: Inzwischen hat er das Herz der Türkei erreicht. In Istanbul wurden Anfang des Jahres zwölf Deutsche Opfer der Gewalt – und auch jetzt scheinen deutsche Institutionen wieder im Visier von Gewalttätern zu sein. Wer sie sind – ob tatsächlich radikale kurdische Splittergruppen oder möglicherweise Gefolgsleute der Terrormiliz IS – lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Die Informationspolitik der türkischen Regierung ist Bestandteil einer militärischen Strategie.
Trauen kann man ihr nicht. Da passt es gut ins Bild, dass der Staatschef selbst Hatz auf kritische Journalisten betreibt. Mehr und mehr sind davon auch ausländische Korrespondenten betroffen. Ihnen wird die Arbeitsgrundlage entzogen. Erdogan versucht zu kontrollieren, was sein Land und die Welt über ihn denkt – und bewirkt auf diesem Weg genau das Gegenteil. Tatsächlich war die EU noch nie so auf Erdogan angewiesen wie heute. Der EU-Gipfel zeigt das. Unantastbar macht das den Herrscher vom Bosporus nicht. Innerhalb der EU wächst Widerstand gegen große Zugeständnisse an Ankara. Zu recht. Mit dieser Türkei ist in Europa kein Staat zu machen.
Wer jedoch Erdogans Anspruch stutzen will, muss die europäische Solidarität stärken. Die Strategie der Totalverweigerung funktioniert nicht, weder in Brüssel in der Flüchtlingsfrage, noch im Kurdenkonflikt in der Türkei, wo sich Erdogan ganz kompromisslos gibt. Südwest Presse
EU ringt um ein Flüchtlingsabkommen mit der Türkei