Die Ermittlungen zum Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt gelten als weitgehend abgeschlossen. Nach Informationen von WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung sind die Behörden zu dem Ergebnis gekommen, dass der Attentäter Anis Amri im vergangenen Oktober ursprünglich plante, zum sogenannten Islamischen Staat auszureisen, dann aber offenbar von einem oder mehreren IS-Mitgliedern gedrängt wurde, einen Anschlag in Deutschland zu begehen. Der IS habe das besondere Potenzial von Amri erkannt und dann gezielt darauf hingearbeitet, dass der Tunesier seine Tat hier begeht, heißt es in Ermittlungskreisen. Am 10. November des vergangenen Jahres wurde dem Tunesier die pdf-Datei eines IS-Dokuments mit dem Titel „Die frohe Botschaft zur Rechtleitung für diejenigen, die Märtyrer-Operationen durchführen“ übermittelt. In dem 143-seitigen Papier wird der Jihad, auch gegen Alte, Frauen und Kinder, gerechtfertigt. Noch unmittelbar vor seiner Tat stand Amri mit einem IS-Mitglied in Verbindung und tauschte sieben Nachrichten aus. Gegen diese unbekannte Person wird von der Bundesanwaltschaft wegen Beihilfe zum Mord und zum versuchten Mord ermittelt.
Die Ermittlungsbehörden gehen davon aus, dass es sich um einen sogenannten IS-Instrukteur handelt, der Islamisten dabei berät – oder sie drängt – Anschläge im Westen zu begehen. Diese setzt die terroristische Organisation inzwischen in zahlreichen Fällen ein der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz Hans-Georg Maaßen nennt sie „regelrechte Headhunter“. Allein in vier der fünf im vergangenen Jahr in Deutschland begangenen Anschläge spielten nach Erkenntnissen des BKA solche IS-Instrukteure eine entscheidende Rolle.
Die weitgehende Aufklärung der Tat durch Bundeskriminalamt und Bundesanwaltschaft wurde möglich, weil Teile der Chat-Verläufe Amris wieder hergestellt werden konnten. So schrieb er am 5. Oktober an ein mutmaßliches IS-Mitglied: „Ich will zu Euch auswandern, sag mir, was ich tun soll. Ich bin jetzt in Deutschland.“ Amri wurde aufgefordert, auf einen verschlüsselten Kanal des Messenger-Dienstes Telegram zu wechseln. Zudem hatte der Tunesier vergessen, an einem seiner Handys die Google-Ortungsfunktion auszustellen. Mit Hilfe dieser Daten konnte festgestellt werden, dass Amri ab dem 22. November begann, den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche zu besuchen, insgesamt sieben Mal vor der Tat. Am 22. November beendete Amri auch den zuvor extensiven Besuch von Porno-Seiten im Internet. Er rief nur noch islamistische Inhalte auf. Monika Wagener – WDR Pressedesk – WDR Westdeutscher Rundfunk
Berlins Polizeipräsident verkündet internes Ermittlungspaket
In einer persönlichen E-Mail an die Bediensteten der Berliner Polizei hat Polizeipräsident Klaus Kandt eine umfassende Nachermittlung polizeilicher Vorgänge im Fall Amri angekündigt.
In der E-Mail, die dem rbb vorliegt, schreibt er, mit Hilfe der „Taskforce Lupe“ müssten „Verdachtsmomente“ gegen Beamte „rückhaltlos aufgeklärt werden.“ Dabei sollen sämtliche vorhandenen Vorgangsdaten zum Fall Amri auf Vollständigkeit hin untersucht werden. Auch solle es eine nachträgliche Überprüfung aller Protokolle aus Abhörmaßnahmen gegen Amri geben. Diese war zuletzt vom Untersuchungsausschuss des Landtages NRW als lückenhaft kritisiert worden.
Kandt kritisierte zugleich voreilige öffentliche Verurteilungen: „Eine Pauschalverurteilung der Polizei Berlin ist gänzlich fehl am Platze.“ Rundfunk Berlin-Brandenburg
Kubicki: Im Fall Amri droht ein nicht wiedergutzumachender Vertrauensverlust
Zu den neuen Erkenntnissen im Fall Amri erklärt der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Wolfgang Kubicki: „Nachdem der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger im Falle Anis Amri öffentlich gelogen hat, um seine Haut zu retten, müssen wir jetzt erleben, dass im Berliner Landeskriminalamt offenbar Aktenmanipulationen vorgenommen worden sind. Beide Ereignisse zusammen drohen einen nicht wiedergutzumachenden Vertrauensverlust in die Lauterkeit rechtsstaatlichen Handelns zu verursachen. Die Tatsache, dass interne Kontrollmechanismen bei den Sicherheitsbehörden nicht funktionieren und dass sich Menschen, die den Rechtstaat schützen sollen, am Rechtsstaat versündigen, habe ich mir bisher nicht vorstellen können.
Wir erinnern daran, dass auch im LKA in Kiel aktuell der Vorwurf im Raum steht, im Bereich der Rocker-Kriminalität seien Ermittlungsergebnisse manipuliert worden – ebenfalls unter einem sozialdemokratischen Innenminister. Wenn sich der SPD-Fraktionsvorsitzende Oppermann nun über derartige Praktiken öffentlich echauffiert, sollte er an seine eigenen Genossen die Frage stellen, ob die Polizeien in der internen Organisation von der politischen Führung noch im Auge behalten werden, oder ob solche Vorkommnisse offen toleriert werden.
Gegen solche Praktiken helfen keine neuen Gesetze. Wer vor Gesetzesübertretungen nicht zurückschreckt, schreckt auch vor der Übertretung von schärferen Gesetzen nicht zurück. Wenn Gesetze von Gesetzeshütern gebrochen werden, dann bekommt der Rechtsstaat ein massives Glaubwürdigkeitsproblem.“ FDP